Der folgende Artikel wurde ursprünglich als Seminar-Vortrag im Rahmen der Hauptkonferenz von Evangelium21 in Hamburg von Felix Aeschlimann gehalten. Der Vortrag wurde dann im Timotheus Magazin (Das bibelorientierte & reformatorisch geprägte Magazin für junge Christen.) in leicht überarbeiteter Form abgedruckt. Das Timotheus Magazin kann hier abonniert werden:

 

von Felix Aeschlimann   14 Minuten Lesezeit

 

In unserer Gesellschaft ist ein neuer Moralismus aufgekommen, ein „Evangelium“ in postmoderner Version. Wir wollen mit vier Fragen an das Thema herangehen:

  • Weshalb ist Moralismus für viele eine attraktive Alternative zum Evangelium?
  • Was ist die Kernbotschaft des neuen Moralismus innerhalb der christlichen Szene?
  • Was können wir von den neuen „Moralaposteln“ lernen?
  • Wie bewerten wir den Moralismus aus biblisch-theologischer Sicht?

 

Als Christen, die an das Evangelium der Gnade glauben, wissen wir: Bevor Gott Befehle erteilt, stattet er seine Kinder immer zunächst mit allem Nötigen aus, mit einem Leben und mit Voraussetzungen, in der seine Befehle Sinn ergeben bzw. ausgeführt werden können.

Zuerst der wunderbare Garten Eden, die Fähigkeit zu einer Gottesbeziehung, dann erst der Befehl – wohlgemerkt der einzige: Haltet euch von der einen Frucht fern!

Zuerst die wundersame Rettung aus dem Sklavenhaus Ägypten, dann die Zehn Gebote.

Zuerst die neue Geburt durch den Heiligen Geist, dann die Imperative, wie wir als Gläubige leben sollen.

Theologisch ausgedrückt: Zuerst der Heils-Indikativ (Wirklichkeitsform), danach erst der Heils-Imperativ! Wenn wir das auf den Kopf stellen, quasi den Wagen vor das Pferd spannen und dem Wagen befehlen, er solle jetzt das Pferd ziehen, dann endet das im Fiasko.
Jahrzehntelang beschuldigte man vor allem evangelikale Christen, sie würden genau das machen. Weit schlimmer noch, sie würden überhaupt nur Verbote kennen! Ständig würden sie alles verbieten, was Spaß macht.
Tatsächlich, da standen mitunter allerlei Tätigkeiten auf der Verbotsliste: Tanzen, Schminken, Theaterbesuch, später Kino, dann das Tragen bestimmter Kleidung oder Frisuren, Alkohol, Rauchen, Fernsehen und Internet … Viele Christen erlebten die Jesusnachfolge als ständige Bevormundung. Das ist mittlerweile lange her. Sehr lange sogar.
Mit Merkmalen wie verstaubt , antiquiert und rückwärtsgewandt , erzkonservativ und engstirnig – damit wollen Christen nicht mehr in Verbindung gebracht werden. Viel lieber mit Begriffen wie liberal , offen , gar weltoffen , modern , progres siv , eigenständig , unabhängig . Mit der Kultur der Bevormundung, der unzähligen Verbote, haben wir abgeschlossen – endgültig! Jedenfalls die Evangelikalen.

 

Aber dann dies – im September lese ich auf einem Plakat von Klimademonstranten: „Verbietet uns endlich etwas!“

 

verbietet uns endlich etwas

 

Tatsächlich. Da entsteht vor unseren Augen eine neue Säkular-Religion, so der Kommentar des links-liberalen Tagesanzeiger von Zürich. Eine Religion mit eigenen Ritualen und einem überaus frommen Vokabular – und vielen, vielen Verboten, Einschränkungen und rigoroser Bevormundung.
Die Süddeutsche Zeitung formuliert es mit religiösen Begriffen: „In New York laden die Vereinten Nationen zum Klimagipfel, und Greta Thunberg, die Prophetin wider Willen aus Schweden, wird den Mächtigen zurufen: Bekehrt euch! Jetzt ist die Erweckungsbewegung da, ausgelöst von einem Mädchen mit strengen Zöpfen, das freitags nicht mehr zur Schule ging.“
Das Vokabular der heutigen Klimaaktivisten erinnert tatsächlich an christliche Predigten. Da ist die Rede von:

  • Apokalyptischer Angstlust
  • Weltuntergang
  • Erlösungshoffnung
  • Bußübungen
  • Klimasünde
  • Sündenbekenntnisse
  • Fasten
  • Ablasshandel
  • Der fröhlichen Gemeinde der Gleichgesinnten
  • Erlöste und Verdammte
  • Visionärer Eifer
  • Bekenntnisgetriebene Bewegung

Und so hält Greta Thunberg am 23. September vor dem Uno-Klimagipfel in New York eine 5-minütige, sehr emotionale Erweckungspredigt.

Irgendetwas läuft schief

Am 9. März 2019, einem Samstagabend, höre und sehe ich mir – quasi als Berufskrankheit – das Wort zum Sonntag im Schweizer Fernsehen an. Der reformierte Pfarrer beginnt so: „Irgendetwas läuft heftig schief bei uns.“ Recht hat er. Geistlich gesehen läuft ziemlich vieles schief in der Schweiz.
Aber das meint der gute Pfarrer nicht, sondern die Tatsache, dass die Schweiz weiterhin ein SUV-Land sei, ein Land also, in der die großen Sport- und Geländewagen über einen Drittel der PKW ausmachen. Parkplätze werden so zu klein und die Fahrbahnen zu schmal. Man braucht immer mehr Land für die Autos.
Für den Wort-zum-Sonntag-Prediger ist das ein grundsätzliches Problem: Wir machen uns immer breiter und breiter. Wir wollen wirtschaftlich wachsen. Eine biblische Frage regt ihn an: „Was hilft es, wenn der Mensch die ganze Welt gewinnt, aber dabei das Leben verliert?“ (Mk 8,36) „Das Streben nach immer mehr macht uns krank“, meint er. Wir brauchen Heilung von diesem ewigen Wachstum. Wir müssen gesünder leben. Wir müssen das rechte Maß finden. Wir müssen aus diesem Wahn nach immer mehr aussteigen.
Mäßigung ist seiner Meinung nach der Weg zur Heilung. Mit Reduktion gewinnen wir Freiheit. Damit sollen wir bei uns selber anfangen und Agentin und Agent einer anderen Zukunft werden. Für uns selbst und für die Gesellschaft. So seine Botschaft zum Sonntag.
Ein paar Sekunden später folgte eine Werbung für die SUV-Flotte von Peugeot. Da ich aber schon ein geländegängiges Fahrzeug besitze, zappe ich zwei Sender nach oben und höre einen Bundes-Parlamentarier lamentieren, dass doch die Kirche endlich aufhören solle mit dem Moralisieren und uns vorzuschreiben, uns nur noch vegan zu ernähren und auf fossile Brennstoffe zu verzichten. Stattdessen solle sich doch die Kirche endlich wieder auf ihr Kerngeschäft konzentrieren, die Verkündigung des Evangeliums.
O ja, irgendetwas läuft wirklich schief in unseren Kirchen und Predigten! Wenn die Programmchefs dem Pfarrer mit Werbung ins Wort fallen und ihm mitteilen: „Eine Welt ohne Offroader mag ja ganz nett sein, aber der Rubel muss rollen. Die Autoindustrie bezahlt uns nun mal einen Mammutanteil unserer Werbeeinnahmen.“ Sogar Politiker müssen die Kirche an ihr Kerngeschäft erinnern!
Und selbst ein Schriftsteller wie Thomas Hürlimann, Sohn des ehemaligen Schweizer Bundesrats und Innenministers Hans Hürlimann, klagt:
„Wenn sie [die Kirche] das Überzeitliche verlässt, was sie leider dauernd tut, dann verliert sie ihren Nimbus. Gehen Sie in Berlin in die Kirche, egal ob katholisch oder protestantisch, dann predigt Ihnen ein Sozialhelfer, dass sie zu allen Türken lieb sein müssen. Eine Religion, die nicht mehr den Mut aufbringt, für sich die Wahrheit in Anspruch zu nehmen, gibt sich selbst auf. Diese Gefahr besteht. Die leeren Kirchen sind eine Katastrophe.“(1 Interview in der Weltwoche, 26.7.2019)
Das „Überzeitliche verlassen“ nennt das der ehemalige Klosterschüler und Mitbegründer eines Atheisten-Clubs.
Gleiches Jahr, nur ein paar Wochen später: Beim Wort zum Sonntag zum Osterfest wird gesagt: „Karfreitag hat die im Blick, für die die Welt zusammenbricht. Wenn wir uns vom Leben betrogen und verraten fühlen. Ostern zeigt uns, dass all das nicht das letzte Wort haben muss. In diese Leere hinein kommt das Versprechen der Auferstehung. Es geht auch für dich weiter. In dir rumort noch eine Zukunft. Dieses innere Rumoren wünsche ich Ihnen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer.“
Und am 24. September zum Thema Tempelreinigung – sinngemäß: Jesus eifert um das Haus Gottes. Fazit: Wir müssen für die Schöpfung eifern und Klimaaktivisten werden! Hier wird das Evangelium nicht als gute Nachricht für das Leben nach dem Tod verstanden, sondern als eine halbwegs gute Nachricht für das halbwegs gute Leben auf dieser Erde.
Thomas Hürlimann erzählt in einem anderen Interview, dass er während seines recht langen Spitalaufenthalts ein Wort nie gehört hat: Tod. Wenn das Transzendente abgeschafft wird, dann zählt nur noch dieses Leben, dann aber ist der Tod tabu!
Und damit sind wir bei der Frage: Was macht denn diesen Moralismus so attraktiv? Es geht um das Leben hier und jetzt! Das Transzendente, das Himmlische, das Übernatürliche wird ausgeblendet, weil es so schwer erklärbar ist, so unwissenschaftlich tönt – und auch irgendwie peinlich wirkt!

© Foto: Kelly Sikkema – unsplash.com/@kellysikkema

Was macht den Moralismus so attraktiv?

Wir können hier und jetzt etwas bewegen!

Grata Thunberg denkt nicht in Jahrhunderten, nicht einmal in Jahrzehnten. Sie will den Wechsel sofort, hier, jetzt. Karl Marx meinte schon vor 175 Jahren, Religion sei das Opium des Volks. Dieses ständige Sehnen nach dem Jenseits verneble doch nur den Verstand und den Willen, nach dem Glück im Diesseits zu streben. Das Unmittelbare, der sofortige Erfolg, das Sichtbare ist immer attraktiver als das Ferne, das, was wir noch nicht sehen, sondern nur erahnen oder eben glauben können.
Was findet Zustimmung in der Bevölkerung? Das fragen sich Politiker von Berufs wegen. Aber das fragen zunehmend auch Pfarrer. Relevant scheint uns nicht die Frage nach der Rettung des Sünders vor dem zornigen Gott, sondern: „Können wir diese Welt vor einer Klimakatastrophe retten?“ Darüber spricht die ganze Welt, also lasst uns das auch in unseren Kirchen zum Thema Nummer 1 machen. Denn das ist relevant. Das bringt uns Zustimmung! Und so wird die Frage: „Wie stehst du zur Klimaerwärmung?“, wichtiger als die Frage: „Wer ist Jesus Christus?“
Selma Lagerlöf, schwedische Schriftstellerin und erste Frau, die den Literaturnobelpreis gewonnen hat, lässt in ihrem 1897 erschienenen Roman „Die Wunder des Antichrist“ den Papst sagen: “Ich sehe eine Volksbewegung aufstehen, die in Liebe zum Nebenmenschen erglüht, aber Gott hasst. Ich sehe Menschen Märtyrer werden für die neue Hoff nung auf eine glückliche Erde. Ich sehe, wie sie neue Freude und neuen Mut schöpfen aus dem Wort ‚Denkt an die Erde!‘, Freude und Mut, wie sie sie früher aus dem Wort ‚Denkt an den Himmel!‘ schöpften.“ (2 Aus: Die Wunder des Antichrist)
Daraus folgt: Wir nehmen unser Schicksal in die Hand! Wir verändern die Welt! Wir handeln! Entsprechend lautet ein anderes Plakat von Klimaaktivisten: „JETZT müssen WIR handeln!“

Moralismus ist relevant!

Das Transzendente ging verloren, es bleibt nur noch diese Welt – und damit nur noch die Frage: Wie leben wir auf dieser Welt richtig? Es bleibt Moral. Aber die scheint in unserer durch und durch moralisierenden Welt äußerst relevant zu sein. Wenn wir da mitmachen, schwimmen wir auf einer gewaltigen Welle und nicht gegen den Strom. Und das ist immer bequemer.
Dazu muss man sich nur die Agenda der heutigen politischen Parteien anschauen. Oder die Filmbranche: Christen waren bislang dafür bekannt, dass sie Literatur und Filme bzw. Kunst kritisch beäugten und nach antichristlichen Aussagen, Tendenzen und Ideologien untersuchten und dann ggf. brandmarkten. 
Mittlerweile hat sich das Blatt gewendet. Heute ist es die Welt, die Kunst, Literatur, Filme, Musik kritisiert. Sie setzt die Moralkeule an, bietet die Gedankenpolizei auf. Ein Regisseur muss heute einiges beachten, wenn er nicht der Gedankenpolizei zum Opfer fallen will. Ein schwules oder lesbisches Pärchen ist in Filmen schon fast ein Muss, besser noch zusätzlich ein Trans- oder Bisexueller. Frauen müssen in jedem Fall Heldinnen sein, die Männer spielen besser die Trottel-Rolle. Der freie und eigenständig denkende Bürger ist ein Modell von Gestern. Der gute Bürger lässt sich vorschreiben, was er sehen darf und was nicht. 
Diese „Relevanz“ macht auch vor theologischen Ausbildungsstätten nicht halt. Dazu muss man sich nur einmal die Tweets des Union Theological Seminary in New York anschauen (das ursprünglich von der presbyterianischen Kirche gegründet wurde). Übersetzt heißt es dort: „Heute haben wir in der Kapelle vor Pflanzen ein Bekenntnis abgelegt. Gemeinsam brachten wir unsere Trauer, Freude, Reue, Hoff nung, Schuld und Sorge in Gebeten zum Ausdruck, die wir den Lebewesen darbrachten, die uns ernähren, aber deren Gabe wir allzu oft zu ehren versäumen. – Was bekennst du den Pflanzen in deinem Leben?“

Tweet des Union Theological Seminary vom 17. 09. 2019
Tweet des Union Theological Seminary vom 17. 09. 2019

 

Wir vermeiden unbequeme oder gar peinliche Erklärungen des Evangeliums

Als evangelikale Christen thematisieren wir auch Gottes Zorn und die Schuld der Menschen. Da ist die Rede von einem Opfer für Schuld und von Blut, das fließen musste. Das ist nicht nur schwierig zu erklären, man macht sich damit auch leicht zum Trottel. Schon Bultmann spottete (als Antisemit) über diese jüdischen Rituale mit Ziegen, Schafen, Rindern und viel Blut.
Wir versuchen deshalb, das Kreuz möglichst zu vermeiden. Der Kreuzestod scheint vielen Menschen sinnlos. Die wesentliche Botschaft des Evangeliums, dass Christus an unserer Stelle die Strafe Gottes ertrug und uns deshalb die Vergebung der Sünden schenkt, wird heute meist als irrational und lächerlich abgetan. Moral und Ethik zu verkündigen, scheint uns da angenehmer.

 

© Foto: Raul Angel – unsplash.com/@raulangel

 

Was ist die Kernbotschaft des neuen Moralismus innerhalb der christlichen Szene?

In unserer pluralistischen Welt klingt es arrogant, von einer ausschließlichen Wahrheit im Christentum zu reden. Wir suchen nach dem Gemeinsamen in allen Religionen und finden es in den moralischen Regeln.
Religion ist also grundsätzlich etwas Moralisches. Das ist es, was die religiösen Moralisten eint. Unterschiedliche Theologie, Dogmen, Formen, Sakramente, Institutionen trennen uns. Man muss sie hinter sich lassen.
Stattdessen verkündigt man viel Moral. Natürlich nicht im pietistischen Sinne oder in der Manier der Heiligungsbewegung. Es geht nicht um Moral, die quer zur Gesellschaft liegt, sondern voll im Trend ist. Also im Sinne von:

Würde Jesus einen Kurzstreckenflug von Nazareth nach Jerusalem buchen?
Würde Jesus einen SUV fahren?
Würde Jesus den Jüngern Fisch mit Atomstrom braten?

Die Frage lautet heute: „Was würde ein imaginärer Jesus im Sinne der modernen Moral tun?“ Und nicht: „Was hat der biblische Jesus getan?“
Brian McLaren ist einer der Hauptvertreter der Emerging-Church-Bewegung. Das Magazin Time zählt ihn zu den 25 einflussreichsten Evangelikalen der USA. Er meint, dass Christentum sei vor allem eine Lebensart; Jüngerschaft sei wichtiger als Lehre. Es gehe darum, dem Beispiel von Jesus zu folgen. Das Christentum fasst er zusammen als eine Ethik der Liebe. Und daher ist es für ihn auch möglich, innerhalb der buddhistischen oder hinduistischen Gemeinschaft ein Jesusnachfolger zu sein. Er schreibt: „Ich hoffe nicht, dass alle Juden oder Hindus Mitglieder der christlichen Religion werden, aber ich hoffe, dass alle, die sich so berufen fühlen, jüdische oder hinduistische Nachfolger von Jesus werden.“ (3 Brian McLaren: A Generous Orthodoxy, Zondervan 2004, S. 113.) Der Skandal des Evangeliums ist damit beseitigt.

Ethik und Moral: Damit kann man nicht wirklich etwas falsch machen, sofern man sich in Sachen Ethik dem Zeitgeist anpasst und in der Verkündigung gerade das betont, was aktuell ist. Zum Beispiel die Klimaerwärmung. Dieses Thema ist sogar sehr ökumenisch, nicht wahr? Rund um den Globus sorgen sich die Menschen um das Klima, Moslems wie Hindus, Buddhisten und Christen.
Aber die christlichen Moralisten verfolgen nicht nur eine politische Agenda, sie verkündigen Moral auch als Lebenshilfe in Form von „Tipps und Tricks für das gute Leben hier und jetzt“.

  • Wie ich eine perfekte Ehe führe
  • Wie ich ein optimaler Daddy werde
  • Wie ich mich aus der Schuldenspiral befreie
  • Wie ich gute Freunde finde …

Nehmen wir nur Joshua Harris und seinen Mega-Bestseller „Ungeküsst und doch kein Frosch“ („I Kissed Dating Goodbye“). Harris sagte im Nachhinein über das Buch: „Ich dachte damals (4 Harris war 21 Jahre alt, als er das Buch schrieb), alles könnte besser werden, wenn man sich nur genug anstrenge.“ Harris verkaufte Regeln, Tipps und Tricks als biblische Wahrheit!
Eine Leserin seines Buches erklärte im Dokumentarfilm „I Survived I Kissed Dating Goodbye”, für sie sei das Buch wie der goldene Standard gewesen, nach dem man leben müsse. Und obschon sie sehr strikt nach diesen Regeln lebte, fühlte sie, dass sie diese Standards doch nicht erfüllte, dass sie einfach „nicht genug getan hatte“. Und dann erwähnt sie etwas Bemerkenswertes: „Das Buch war eine Art ‚Geld-zurück-Garantie‘. Es verspricht: Wenn du das genauso machst, dann wird deine Ehe glücklich, erfüllend und dein Sexleben bis zum Tod atemberaubend.“
Das Buch von Harris verfolgt im Grunde die gleichen Ziele wie die Wohlstandsevangelisten: Sei in deiner Beziehung zu deiner Freundin absolut rein, dann wird deine Ehe perfekt, wundervoll und dein Sexleben absolut erfüllend. Du bekommst Beziehungswohlstand und Ehewohlstand. Harris 4 Harris war 21 Jahre alt, als er das Buch schrieb. verfolgte eine Form des Wohlstandsevangeliums, fokussierte Moral statt das Evangelium und scheiterte schließlich sowohl in seiner eigenen Ehe wie auch im Glaubensleben.
Diese Form von „Evangelium“ findet sich selbst in vielen „Bekehrungszeugnissen“. Wir erzählen dabei gerne unsere Erfolgsgeschichte!
Das Hauptargument unserer apologetischen Evangelisation ist moralischer Art. Wir trumpfen mit Erfolgstories auf. Weisen auf all das Gute, dass der Glauben an Jesus Christus in den Kindern Gottes schafft: Vom bösen, egoistischen, an Süchte gebundenen Menschen zum Gutmenschen, der in jeder Hinsicht christliche Nächstenliebe lebt. Nicht das, was jemand anderes getan hat – Jesus Christus –, sondern das, was wir erreichen und tun, das zählt.
Diese Form von „Evangelium“ findet sich auch in unserem Liedgut, z.B. in dem Lied „Stadt, Land, Welt“:

„In meinem Haus, in meiner Straße, meinem Viertel, meiner Stadt,
will ich ein Zeuge sein von dem, was Gott in mir verändert hat …
In unserm Kreis, in unserm Land und auf dem ganzen Kontinent,
sollen die Leute spüren, dass in uns die Liebe Gottes brennt.“

Aber sind wir das Evangelium oder ist es das, was Jesus getan hat?
Die Theologie in der evangelistischen Verkündigung hat sich radikal verändert. Wo die Reformatoren noch auf den Kern des Evangeliums hinwiesen, haben Evangelikale heute die Randgebiete zum Mittelpunkt gemacht. Mit verheerenden Folgen. Wenn wir das Evangelium der guten Nachricht entleeren, machen wir uns äußerst verletzlich. Wir sind Versager auf allen Fronten – und damit wird auch dieses „Evangelium“ mit uns versagen, weil wir dieses Evangelium sind.

Was können wir von den Moralaposteln lernen?

Einfache Antwort: Schaut euch Gretas Rede vor der Uno-Vollversammlung an und lernt von ihr: zuspitzen, emotionalisieren, personalisieren!

  • Sie redet Klartext.
  • Sie zeigt Emotionen.
  • Sie ist persönlich überzeugt.
  • Allen Staatschefs ist klar: Sie sind gemeint!

Wenn wir wollen, dass das Evangelium verstanden wird, dann müssen wir nicht nur unseren akademischen Dünkel ablegen, sondern auch unsere akademische Sprache. Moralisten sind meist hervorragende Kommunikatoren. Wir können von den Moralisten viel lernen! Ihre Hingabe, ihre Leidenschaft, ihr Engagement, ihre absolute Überzeugung!
Greta sagte in ihrer Rede: „Die Wissenschaft ist seit 30 Jahren glasklar!“ Für sie ist die Wissenschaft die höchste Autorität! Damit will sie jede Kritik zum Schweigen bringen, jeden Mund stopfen. Darüber wird nicht diskutiert. Unfehlbar, irrtumslos! Aber unfehlbar ist Wissenschaft natürlich nie!
Treten wir mit derselben Überzeugung auf, wenn es um die Wahrheit von Gottes Wort geht? Gott sagt in seinem Wort: … Ende der Durchsage!

 

© Foto: Kelly Sikkema – unsplash.com/@kellysikkema (Montage)

 

Wie bewerten wir den Moralismus aus biblisch-theologischer Sicht?

Wie verstehen evangelische Christen heute das Evangelium?
Zum 100-jährigen Jubiläum der EVP , einer christlichen politischen Partei der Schweiz, zitiert die Präsidentin einen Wahlaufruf aus dem Jahr 1919: „Der Nährboden für eine gedeihliche Volksgemeinschaft ist das Evangelium von Jesus Christus. Dessen Hauptforderung heißt: Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung.“ Die Präsidentin fügt dem noch einen Satz hinzu: „Wir haben einen Auftrag – es gibt noch viel zu tun.“
Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung werden also als Kerninhalte des Evangeliums und zudem als Imperative verstanden.

  • Wir müssen lieben.
  • Wir setzen uns für soziale Gerechtigkeit ein.
  • Wir wehren uns gegen Fake-News in den Medien.
  • Wir schaffen Versöhnung zwischen Arm und Reich, Einheimischen und Migranten, Jung und Alt.

Nun, das wahre biblische Evangelium hat auch einen Imperativ. Aber diesem Imperativ geht der Indikativ voraus, dass die Erlösung Jesu vollbrachtes Werk ist. Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung seitens des Menschen sind Forderungen des Gesetzes. Das ist nicht das Evangelium!
Das Evangelium lautet: Gott rettet Sünder! Martin Luther schrieb: „Denn dieser Unterschied zwischen dem Gesetz und Evangelium ist die höchste Kunst in der Christenheit, die alle und jede, so sich des christlichen Namens rühmen oder annehmen, können und wissen sollen. Denn wo es an diesem Stück mangelt, da kann man einen Christen vor einem Heiden oder Juden nicht erkennen; so gar liegt es an diesem Unterschied.“ (5 M. Luther, Predigt vom Unterschied zwischen dem Gesetz und Evangelio über Gal 3,23.24 in: Walch 2IX, 798-811. )
Für Luther gab es nur zwei Kategorien von Religionen: Entweder gründen sie auf dem Evangelium oder auf Gesetz! Das Gesetz ist, was Gott befiehlt und das Evangelium ist, was Gott schenkt. Was Gott im Gesetz verlangt, das schenkt er uns im Evangelium.
Wir verwechseln Gesetz und Evangelium oft völlig unbemerkt, indem wir Gesetz mit Liebe ersetzen. Und so kommt die Gesetzlichkeit heute weit netter und viel attraktiver daher als früher. Nette Gesetzlichkeit nenne ich das. Scheinbar liebenswürdige Gesetzlichkeit: „Gott will schlicht, dass du liebst!“ Du sollst lieben?! Das ist das Gesetz!
Es gibt tatsächlich Leute, die glauben, dass das Gesetz das Gegenteil von Liebe sei! Die schlechte Nachricht ist ihrer Meinung nach das Gesetz. Die gute Nachricht ist Liebe! Aber Jesus fasst das gesamte Gesetz als Liebe zusammen! (Mt 22,35-40). Liebe ist ein Gebot, ein Gesetz!

Calvin schreibt in seiner Institutio: „Was sollen sie nun machen, wenn sie empfinden, dass sie alles weniger tun, als das Gesetz mit ihrer Leistung zu erfüllen? Sie wollen zwar, sie streben, sie bemühen sich – aber nicht mit der erforderlichen Vollkommenheit! … Denn das Gesetz fordert vollkommene Liebe, es verdammt also alle Unvollkommenheit – sofern nicht seine Schärfe gelindert wird! So mag man denn sein Werk anschauen, das man so gerne teilweise für gut angesehen wissen möchte – und man wird finden, dass es eben deshalb Übertretung des Gesetzes ist, weil es unvollkommen ist!“ (III,19,4)
Calvin liegt richtig: Gott fordert perfekte Liebe! Wo immer Christen Abschied nehmen von der Rechtfertigung des Sünders durch den stellvertretenden Gehorsam und Tod des Christus, behalten sie eines in jedem Fall: Die Bergpredigt. Die Bergpredigt soll leichte Kost sein? Sie zeigt doch vor allem eines: Die Schärfe des Gesetzes. Das Gesetz sagt: Tu das, oder du stirbst. Moralisten sagen: Tu das und du wirst dich und die Welt glücklicher, freundlicher, friedlicher, sauberer … machen.
J. Gresham Machen fasste vor 100 Jahren in seiner vielbeachteten Schrift „Christentum und Liberalismus“ den theologischen Liberalismus so zusammen: Die Essenz des Liberalismus ist Moralismus. Das Zentrum des Evangeliums ist nicht, du sollst „Gott und den nächsten lieben!“, sondern „Christus rettet Sünder“.
Machen stellt heraus, was wir als Fazit festhalten können: (6 J. Gresham Machen: Christentum und Liberalismus , 3L Verlag 2013. Die ersten zwei Punkte des Fazits finden sich auf Seite 62. Die „Essenz“ und die letzten zwei Punkte sind eine Zusammenfassung seiner gesamten Argumentation.)

Liberalismus (Moralismus) beginnt stets mit einem Imperativ, wohingegen das Evangelium den triumphalen Sieg Christi proklamiert .

Liberalismus (Moralismus) appelliert an den menschlichen Willen, das Evangelium hingegen verkündigt den gnädigen Retterakt Gottes.

Liberalismus (Moralismus) betrachtet Christus als Vorbild und Leiter, das Evangelium hingegen betrachtet ihn als Retter.

Liberalismus (Moralismus) macht Christus zum Glaubensvorbild, das Evangelium macht ihn zum Glaubensgegenstand.

 

Portrait Felix Aeschlimann
Felix Aeschlimann ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Nach seinem Studium der Betriebsökonomie und einigen Jahren in leitender Position in der Privatwirtschaft entschloss er sich für das Studium der evangelischen Theologie. Danach wurde er Pfarrer in der FEG Schweiz. Seit 2002 dient er als Direktor des sbt Beatenberg und ist Dozent für biblische und systematische Theologie.